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06.05.24 –
Am 09.06.2024 finden in Baden-Württemberg nicht nur die Kommunalwahlen statt, sondern auch die Wahl zum Europäischen Parlament. Aber warum ist die Europawahl eigentlich wichtig? Warum sollte uns in im Rhein-Neckar-Kreis interessieren, wer im fernen Brüssel das Sagen hat?
Darüber hat Kevin Roth von den GRÜNEN Bammental mit Niklas Nienaß, Mitglied des Europäischen Parlaments, gesprochen. Kevin und Niklas kennen sich aus der Arbeit im Grünen Netzwerk Evidenzbasierte Politik. Niklas hat seit kurzem einen eigenen Podcast „Einfach Europa“, in dem er die Europäische Politik erklärt.
Kevin Roth, GRÜNE Bammental Niklas Nienaß, MdEP
Kevin Roth: Hi Niklas. Vielen Dank, dass Du Dir für dieses Gespräch Zeit genommen hast. Kannst Du Dich den Leserinnen und Lesern kurz vorstellen?
Niklas Nienaß: Ich bin Niklas Nienaß, bin jetzt 32 Jahre alt, seit 2019 Abgeordneter im europäischen Parlament und bearbeite vor allen Dingen die Themen Kultur, Weltraum und Vereinigung ländlicher Räume und wirtschaftliche Entwicklungen in den ländlichen Räumen natürlich. Das bin ich. Zum Hintergrund: Ich bin Jurist und außerdem begeisterter Pilze-Sucher.
Kevin Roth: Hast Du denn in Brüssel genug Wälder, um Pilze zu suchen?
Niklas Nienaß: Nee, in Brüssel selber darf man gar keine Pilze sammeln, aber man kann ein bisschen rausfahren. Vor allem in der Wallonie kann man Pilze sammeln und da finden wir auch ganz gut welche.
Kevin Roth: Wie bist Du eigentlich EU-Politiker geworden? Hast Du Dich bewusst für Europa entschieden oder bist Du da eher so reingerutscht?
Niklas Nienaß: Nee, ich hab mich tatsächlich bewusst dafür entschieden und beworben. Während des Studiums habe ich mich vor allen Dingen auf die Themen Europa und internationales Recht fokussiert und deswegen fand ich das Feld auch am spannendsten und wollte das machen. Als dann die Europawahlen (Anm.: im Jahr 2019) kamen, hab ich auch in der Partei sehr bewusst um Unterstützung geworben. Und das hat dann am Ende auch genauso geklappt.
Kevin Roth: Du hast deine Schwerpunkte gerade schon angesprochen. Kannst Du noch mal zusammenfassen, wofür Du Dich einsetzt und warum Dir diese Themen wichtig sind?
Niklas Nienaß: Ich habe da ein relativ breites Portfolio, weil ich in vier verschiedenen Ausschüssen bin. Einerseits bin ich im Bereich Kultur unterwegs. Ich glaube Europa muss auch kulturell zusammenwachsen. Die Diversität, Vielfalt und Freiheit der Kultur ist das, was Europa so stark und so geil macht, und das will ich und wollen wir alle auch erhalten und fördern. Deswegen mache ich Kulturpolitik und setze mich besonders für die ein, die Kultur schaffen, nämlich die kreativen Künstlerinnen und Künstler. Das liegt auch daran, dass ich früher selbst viel Kultur gemacht habe, z. B. Theater gespielt oder im Chor gesungen.
Im Hauptfokus beschäftige ich mich mit den ländlichen Räumen, das ist natürlich dadurch bedingt, dass Mecklenburg-Vorpommern, wo ich herkomme, wenn man so will ein einziger gigantischer ländlicher Raum ist. Hier müssen wir viel mehr machen und ländliche Räume nicht einfach nur als Abwesenheit von Stadt begreifen sondern wirklich als einen sehr wichtigen und sehr lebenswerten Ort, der sehr sehr viel zu bieten hat und Heimat für ganz viele Menschen ist. Und natürlich auch für ganz viel Natur. Gleichzeitig sind die ländlichen Räume aber auch die Orte, denen wir in der ökologischen Transformation momentan ganz viel abverlangen und wo die Transformation auch am schwierigsten ist. Die Energiewende findet hier im ländlichen Raum statt, die Ernährungswende muss hier umgesetzt werden, gleichzeitig ist hier die Mobilitätswende am schwierigsten und die Wärmewende am teuersten. Das sind halt alles Punkte, wo man einen anderen Fokus und Blick auf die ländlichen Räume braucht, um dafür zu sorgen, dass diese Veränderungen hier gelingen und die Menschen am Ende auch was davon haben.
Und der letzte Punkt ist Raumfahrt, weil ich überzeugt bin, dass wir insbesondere bei dem Thema Spitzentechnologien neue Wege gehen müssen. Wir müssen uns überlegen, wie Europa eigentlich den Wohlstand der Zukunft sichern soll: Wenn jetzt Andere Autos bauen, Andere Computer bauen, alle keine Kohle mehr verfeuern, dann sind die ganzen Bereiche weg, in denen Europa in der Vergangenheit viel Wohlstand geschaffen hat für die Welt und auch für uns natürlich. Und das heißt, man muss in Zukunft etwas Neues machen. Meiner Meinung nach ist das Spitzenforschung und Spitzentechnologie, auf die wir uns in Zukunft mehr konzentrieren sollten.
Kevin Roth: Da bedienst Du schon ein breites Spektrum: Weltraum und ländliche Räume. Wenn man so will, unendliche Weiten und Dorfleben. Gibt es da Überschneidungen?
Niklas Nienaß: (lacht) Ja! Sehr viel Überschneidung. Zum Beispiel, und das war einer der großen Erfolge meiner Legislatur, dass wir eine neue Satellitenkonstellation auf den Weg gebracht haben, die Satelliteninternet für alle Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa zur Verfügung stellen soll. Das heißt, wenn das umgesetzt wird, dann haben wir – und das kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, weil ich auch den Breitband-Ausbau mitverhandelt habe – schneller Satelliteninternet in den ländlichen Regionen Europas, als wir Kabel verlegt haben. Und da zeigt sich unter anderem der große Vorteil von Satelliten für die ländlichen Räume und das ist jetzt nur ein Beispiel. In den Städten wirst du das vermutlich gar nicht merken, aber für die ländlichen Räume wird das Satelliteninternet ein großen Upgrade sein.
Kevin Roth: Wie sieht denn eine normale Arbeitswoche bei Dir aus? Bist Du viel unterwegs? Musst Du ständig erreichbar sein? Wo bist Du denn eigentlich gerade?
Niklas Nienaß: Gerade bin ich in Rostock zum Landesparteitag. Ich bin sehr viel unterwegs und wie eine klassische Woche bei mir aussieht, kann man schlecht sagen, weil sich das tatsächlich immer wieder verändert. Je nachdem welche Ausschüsse anstehen, bin ich mal in Brüssel, mal in Straßburg, mal im Wahlkreis, manchmal bin ich auch ganz wo anders, Berlin ist ein häufiges Ziel, aber auch Paris, Madrid, durch ganz Europa eigentlich. Das gehört einfach dazu, ist aber natürlich auch anstrengend und gar nicht gesund für das Familienleben. Aber man gewöhnt sich daran.
Kevin Roth: Jetzt hast Du einen Insider-Blick in die Europapolitik. Von außen, also für die Bürgerinnen und Bürger, die da drauf schauen, kann Europa sehr kompliziert wirken und es dauert gefühlt auch super lange bis Dinge umgesetzt werden. Dann blockieren einzelne Länder immer wieder im Alleingang manche Entscheidungen, das Einstimmigkeitsprinzip. Wer macht denn in der EU eigentlich die Gesetze und wie siehst Du das Einstimmigkeitsprinzip?
Niklas Nienaß: In der EU machen der Rat und das Parlament gemeinschaftlich Gesetze und das ist ziemlich vergleichbar mit dem, was wir auf Bundesebene haben. Dort haben wir auch den Bundestag und den Bundesrat, die zusammen Gesetze machen. Ich finde es mittlerweile nicht mehr komplizierter, es ist eben ein kleines bisschen anders als das, was wir auf Bundesebene machen. Aber ich würde auch behaupten, dass viele Menschen nicht genau wissen, wie das auf Bundesebene läuft, und halte es demnach für eine falsche Zuschreibung, dass es in der EU komplizierter läuft. Bezüglich der Blockierung, das gilt ja auch nicht für alles. Es gibt Bereiche, wo das Einstimmigkeitsprinzip herrscht, und andere, wo das nicht der Fall ist. In den Bereichen kommen wir auch gut voran. Ich finde auch nicht, dass wir langsamer sind. Das mag mal so gewesen sein, inzwischen sind wir bei einigen Gesetzen recht fix, da sind wir bei einigen Sachen schneller als der Bund.
Die Einstimmigkeit ist natürlich ein wunder Punkt der Europäischen Union, den wir unbedingt beheben und wo wir dafür sorgen müssen, dass wir diese Einstimmigkeit zu Fall bringen, weil das aus verschiedenen Gründen einfach gefährlich ist für Europa. Zum einen, weil wir uns handlungsunfähig machen, weil wir einfach nicht mehr das hinbekommen, was wir hinbekommen müssten. Insbesondere bei der Außen- und Sicherheitspolitik. Zum anderen machen wir uns aber auch intern erpressbar. Ich habe ja schon gesagt, dass wir Bereiche haben, wo wir Einstimmigkeit brauchen, und andere, wo wir keine brauchen. Was manche Leute gerne machen, ist Themen zu verknüpfen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, z. B. wenn ein Land bei einem Thema, bei dem keine Einstimmigkeit notwendig ist, nicht seinen Willen bekommt und dann bei einem anderen Thema, bei dem Einstimmigkeit herrscht, aber eigentlich kein Problem besteht, blockiert, um bei dem ersten Thema seinen Willen zu bekommen. Das ist natürlich sehr gefährlich für eine Demokratie, weil dann eine Minderheit tatsächlich über eine Mehrheit entscheiden kann. Deswegen müssen wir dieses Einstimmigkeitsgesetz abschaffen.
Kevin Roth: Ein Kritikpunkt, der immer gerne kommt und auch im Vorlauf des Brexits eine große Rolle gespielt hat ist, dass die EU sehr teuer ist. Zurzeit 705 Abgeordnete im Parlament inklusive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Gebäude, Reisen und so weiter. Warum leisten wir uns die EU und lohnt es sich?
Niklas Nienaß: Zuerst einmal: Der Apparat EU ist nicht teuer. In der Verwaltung arbeiten um die 60.000 Personen. Zum Vergleich: In Berlin arbeiten über 220.000 Menschen im öffentlichen Dienst, in Hamburg sind es 78.000. So gigantisch ist der Apparat also nicht, weil schon eine einzige Großstadt genauso viele oder mehr Angestellte hat.
Wir alle zahlen Geld in die EU ein, etwa 1% vom BIP, und dieses Geld wird dann umverteilt. Deutschland bekommt also auch Geld aus der EU zurück. Am Ende kommt aber bei Deutschland, sowohl bei den Landwirtinnen und Landwirten oder der Regionalförderung als auch bei den anderen Programmen, nicht so viel Geld an, wie es am Anfang eingezahlt hat. Das heißt, würden wir auf die Beiträge zur EU verzichten, dann könnten wir theoretisch mehr Geld an diese Leute ausgeben. Das war dieses Versprechen vor dem Brexit, also 350 Millionen Pfund an die NHS (Anm.: die staatliche Gesundheitsversorgung in Großbritannien) statt an die EU.
Kevin Roth: Ich war zu der Zeit gerade für mein Studium in Großbritannien und habe das hautnah mitbekommen. Das Versprechen musste bereits am Morgen nach dem Referendum von Nigel Farage zurückgenommen werden, zum Schock der Menschen, die für den Brexit gestimmt hatten. Es war sehr frustrierend, das vor Ort zu mit ansehen zu müssen.
Niklas Nienaß: Das kann ich mir gut vorstellen. Und warum geht es Großbritannien jetzt trotzdem schlechter? Diese Umverteilung und warum wir mitmachen, obwohl wir ja eigentlich draufzahlen, war ein Aushandlungsprozess mit den anderen Mitgliedern. Unser großer Vorteil an der EU ist der Binnenmarkt. Als Exporteuropameister ist es super vorteilhaft für uns, dass wir keine Zölle zahlen, dass wir super einfach mit den Waren über die Grenzen kommen, dass wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit und damit Menschen aus anderen Staaten haben, die nach Deutschland kommen, um beispielsweise in der Pflege zu arbeiten. Das alles trägt zum Wohlstand in Deutschland bei. Der Grund, warum die anderen Staaten mitmachen – denn für die ist das eigentlich wirtschaftlich negativ – ist, dass sie finanzielle Mittel bekommen, also zum Beispiel Landwirtschafts- und Regionalförderung etc. Deswegen funktioniert das. Es ist ein Deal, es ist ein Geben und Nehmen. Wenn wir da jetzt nicht mehr mitmachen würden und diese Vorteile nicht mehr hätten, dann hätten wir in Deutschland zwischen 3 % und 8 % Wirtschaftseinbußen und man kann sich vorstellen, was das für unsere Wirtschaft bedeuten würde. Klar, dass ist jetzt alles BIP und nicht das Grünste vom Ei, aber für eine Vergleichbarkeit ist es, denke ich, schon recht verständlich. Vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung gibt es da auch genauere Zahlen, wie viele Hunderte Milliarden Wertverlust wir hätten. Ich finde, es reicht der Blick nach Großbritannien. Das war mal eine der sieben größten Wirtschaftsmächte, Nuklearmacht, eines der größten Militärs, in allen Belangen gigantisch. Und jetzt sind sie nicht mehr in der EU und sind eigentlich auf der großen Weltbühne egal geworden. Klar, in der Ukraine-Frage ist noch mal ein bisschen Interesse da gewesen, aber die Amerikaner verhandeln erst mit uns, dann mit den Briten und nicht andersrum. Und da zeigt sich einfach: Nicht mehr in der EU zu sein, ist sowas von nachteilig in vielen Bereichen. Es gibt dort Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln, Medikamenten, aber auch Vergnügungsgütern, es ist einfach schlecht für den Wohlstand der Bevölkerung insgesamt. Und deshalb sollten wir uns das weiterhin leisten, die paar Millionen extra zu zahlen, weil wir einfach so viel mehr zurückbekommen.
Kevin Roth: Von Bammental sind es ca. 350 km Luftlinie nach Brüssel, 450 km und ca. 5 h mit dem Auto und fast 500 km und 26 h mit dem Fahrrad. Warum sollte es uns im kleinen Bammental interessieren, wer im fernen Brüssel die Entscheidungen trifft?
Niklas Nienaß: Das ist eine sehr spannende Frage und man kann da auch selbst noch mal ganz konkret Beispiele suchen. Aber ich will mal drei Punkte ansprechen.
Ich kann mir vorstellen, dass ihr in eurer Umgebung viele landwirtschaftliche Flächen habt. Und die Fragen, wie und wofür die Landwirtinnen und Landwirte Geld bekommen, bekommen sie Geld für ihre Lebensmittel oder für ihre Flächen, dafür, dass sie gesellschaftlichen Mehrwert erzeugt und Menschen satt gemacht haben, dass sie ökologische Sachen voran gebracht, zum Beispiel, Grünstreifen angelegt oder weniger Pestizide verwendet haben, oder kriegen sie Geld dafür, dass sie ’ne fette Fläche haben und darauf jedes Jahr Raps anbauen – das sind Fragen, die werden in Europa beantwortet. Da kann der Landwirtschaftsminister so viel machen, wie er will, am Ende ist der große Hebel in Europa und die Frage ist, wie die gemeinsame europäische Agrarpolitik ausfällt und was man dann auch vor Ort sieht. In den letzten fünf Jahren haben wir in Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel wesentlich mehr Grünstreifen als vorher. Und das ist europäische Initiative, weil das Geld für die Sonderförderung von Grünstreifen von der EU kommt, und seitdem wird das gemacht.
Das andere, was konkret das Leben der Menschen vor Ort betrifft, sind Fördermittel von LEADER (Anm.: Liaison entre actions de développement de l’économie rurale, „Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft“). LEADER ist ein Europäisches Förderprogramm, wo Menschen in ländlichen Räumen mitentscheiden können, wie Fördermittel ausgegeben werden. Wollen wir eine Bushaltestelle bauen oder eine Umgehungsstraße, wollen wir Tourismus nachhaltiger machen oder wollen wir 'ne Gaststätte neu tapezieren. Das sind Entscheidungen, die vor Ort getroffen werden und die Region lebhafter, schöner und besser machen. Und da ist halt auch die Frage, wie wird dieses Geld ausgegeben. Dürfen die Leute mitentscheiden oder darf das der Bürgermeister allein entscheiden? Und hier halte ich es für sehr sinnvoll, viel Bürgerbeteiligung zu machen und die Menschen mitentscheiden zu lassen, wie ihre Region sich verändern soll. Das ist mein Fokus bei meiner Arbeit, dass wir mehr Mitbestimmung mit reinbringen.
Und das Dritte ist das ganz Große: Welche Rolle soll die EU in der Welt spielen? Wollen wir Spielball von großen Mächten sein, sodass Putin, Xi Jinping und Trump uns durch die Gegend kicken? Oder wollen wir Mitspieler sein und auf dem internationalen Parkett auch Töne angeben und für Demokratie, Frieden und Sicherheit sorgen? Und sicherlich wird das in Bammental nicht sofort große Auswirkungen haben, aber es ist insgesamt die Frage, in was für einer Welt wir leben wollen. In einer unsicheren Welt, wo man keine Produkte verkaufen kann, wo Propaganda und Hass gestreut werden, aber auch die Befürchtung besteht, dass irgendwelche Truppen irgendwo mal einmarschieren, oder in einer intakten, sicheren und friedlichen Welt. Und das ist nicht einfach so da, sondern dafür muss man sich eben auch Tag für Tag einsetzen. Und das ist eben auch Europapolitik und der Grund zu Wahl zu gehen.
Kevin Roth: Du hast das LEADER Programm angesprochen. Seit kurzem hast Du auch einen Podcast: Einfach Europa. In der ersten Folge sprecht ihr da auch drüber, unter anderem, dass Deutschland 4 Milliarden Euro an Fördermitteln nicht abgerufen hat, wobei Du da auch erklärst, wie diese Zahl zustande kommt und dass es da einige Feinheiten gibt, warum das Geld teilweise in der Schwebe ist. Mir fallen spontan einige Projekte ein, die ich in Bammental mit einem kleinen Bruchteil der 4 Milliarden Euro umsetzen könnte: Renovierung der Sporthalle und des Areals unseres Turnvereins, Sanierung unseres Schwimmbades, Umbau des Gebäudekomplexes „Alte Schmiede“ in einen Begegnungsort für Jung und Alt, die Verbesserung der Finanzierung unseres Familienzentrums, Ausstattung kommunaler Flächen mit Solar, Ausstattung der Schulen und noch Vieles mehr. Was kann ich als Kommunalpolitiker denn konkret tun, um an diese Fördermittel zu kommen? Ist das Sache der Länder, des Bundes, wende ich mich direkt an die EU?
Niklas Nienaß: Es ist eine Kombination aus allem, und da sieht man auch gut, wie die Ebenen zusammenspielen. Wir können auf europäischer Ebene steuern, wofür das Geld ausgegeben werden kann, und auch ein bisschen, wie viel Bürokratie wird am Ende da sein, also welche Anforderungen stellen wir, welche Hürden gibt es, gibt es kleinere Projekt oder größere, oder gibt es alle. Das sind die großen Stellschrauben, mit denen ich erreichen will, dass alle Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden können und dass man auch mit kleinen Projekten an die Förderung rankommt. Die konkrete Umsetzung erfolgt dann auf Landesebene. Da können die Länder dann noch mal sagen, wir stecken jetzt Geld in Klimaschutz, das ist die Vorgabe aus Brüssel, dass ein bestimmter Prozentsatz in Klimaschutz gesteckt wird. Und jetzt kann man sich überlegen, was macht hier in unserer Region für uns am meisten Sinn. Macht es mehr Sinn in Heizungen zu investieren oder in Gebäudedämmung oder in ÖPNV oder sonst etwas. Was ist hier speziell das Relevante für den Klimaschutz. Und dann geht es um die Umsetzung dieser konkreten Projekte. Also, wir beantragen jetzt diese Fördermittel für die energetische Sanierung des Rathauses, damit da eben weniger CO2 ausgestoßen wird. Was ihr also machen könnt, ist zu schauen, wo sind Projekte, die jetzt konkret umgesetzt werden müssen, können, dürfen. Oder man schaut erst mal, wofür gibt es Fördermittel. Zum Beispiel für Klimaschutz, für Kultur, für Bildung oder anderes und sagt dann: Das passt doch ganz gut zur Sanierung unserer Sporthalle. Oder unsere Schule hat ein Theaterprojekt und das würde doch zur Förderung passen, lass uns das mal beantragen. Man kann sich also entweder anschauen, welche Probleme man hat und welche Förderung es dazu gibt, oder man schaut, welche Förderung gibt es und was könnte ich damit im Ort umsetzen.
Kevin Roth: Also, ich bewerbe mich dann beim Land und nicht bei der EU?
Niklas Nienaß: Genau, das sind immer Landesprojekte, gefördert durch die EU. Manchmal gibt das Land noch was dazu, bei euch ist die Förderquote 40 %, das heißt 60 % kommen von Bund, Land oder Kommune oder dem Projektträger selbst, das kann man sich auch teilen, und 40 % von der EU. Da schaut man am besten auf die Landesförderinvestitionsbanken, in Baden-Württemberg ist das die L-Bank.
Kevin Roth: Ein Thema, das unseren Ort beschäftigt, ist die Migration. In Bammental befindet sich eine Unterkunft für Geflüchtete, wo 2016 75 Menschen eingezogen sind. Durch das herausragende Engagement der Flüchtlingshilfe vor Ort und der Gemeinde haben einige der Menschen, die damals nach Bammental gekommen sind, hier eine Heimat gefunden. Zu Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine kamen durch eine private Initiative über 50 Ukrainer*innen nach Bammental und wurden in Privatwohnungen aufgenommen. Auch von diesen Menschen leben und arbeiten inzwischen viele im Ort. Bald sollen wieder 75 Menschen in die Unterkunft einziehen. Durch das große Engagement hier vor Ort hat das alles bisher funktioniert. Warum ist es so schwer, eine Europäische Lösung in der Migrationsfrage zu finden? Wobei da jetzt auch viel passiert ist.
Niklas Nienaß: Ja, es ist viel passiert und es ist nichts Gutes passiert. Meine Theorie ist: Mit dem Thema Migration lassen sich Wahlen gewinnen. Und zwar, wenn man sagt: Die bösen Ausländer, nichts funktioniert. Wählt mich und ich sorge dafür, dass die alle weg sind. Wenn du jetzt mit diesem Motto schon gewählt wurdest, dann hast du kein Interesse daran, dass dein Hauptwahlkampfthema einfach verschwindet. Sollte das also tatsächlich geregelt worden sein, dann wird man für das Thema nicht mehr gewählt, weil es ja nicht mehr da ist. Wenn du es dir anschaust: AfD, ÖVP, FPÖ sowieso, aber auch die CDU haben dieses Thema ja immer wieder laut gemacht, aber für viele andere Themen gar keine Lösungen. Das heißt, wenn das Migrationsthema erst mal weg wäre, hätten sie plötzlich kein Thema mehr. Stell dir vor, es gäbe kein Gendern mehr, was bliebe Söder dann noch? Man könnte ja mal über Sozialpolitik reden, aber da kommt halt nichts. Und das ist das Problem.
Wenn wir uns jetzt anschauen, was konkret passiert ist, was haben wir für Problemstellungen? Wir haben Kommunen, die sich gemeldet und gesagt haben: „Wir haben ein Problem bei der Ausfinanzierung und Ausgestaltung, wie wir Geflüchtete aufnehmen und integrieren können.“ Das heißt, die Kommunen hatten ein Problem mit der Finanzierung. Die haben nicht gesagt, wir haben zu viele Leute, sondern wir haben zu viele Leute für die wenigen Mittel, die wir haben. Wir brauchen mehr Mittel, dann können wir auch mehr Leute aufnehmen. Das war keine rassistisch konnotierte Meldung, sondern einfach nur eine faktische Aussage über Ressourcen. Dann gab es die Äußerung aus verschiedenen Kreisen, die Ausländer, die Geflüchteten sollten gefälligst arbeiten und keine Migration in die Sozialsysteme machen, wie das teilweise auch auf CDU-Plakaten stand. Gleichzeitig haben wir Geflüchtete, die sagen: Wir wollen so gerne arbeiten, aber wir dürfen hier nicht arbeiten. Das heißt, wir haben ein Arbeitsverbot für geflüchtete Menschen, die eigentlich gerne arbeiten wollen und ewig warten müssen. Gleichzeitig suchen Unternehmen händeringend Fachkräfte und würden gerne Geflüchtete einstellen und ausbilden, dürfen sie aber nicht einstellen, weil die Arbeitserlaubnis vom Amt nicht kommt oder einfach ewig dauert. Aus der rechten Ecke, ich sag es jetzt mal überspitzt, kommt: „Die sollen endlich Deutsch lernen!“, und von den Geflüchteten kommt: „Wir würden gerne endlich besser Deutsch lernen, damit wir uns verständigen können!“, aber dafür fehlen einfach die Ressourcen.
Wir haben einerseits die Ressourcenfragen, wir haben andererseits die Arbeitsfrage und diese beiden Bereiche sind genau die, die von der gemeinsamen Europäischen Asylpolitik überhaupt nicht geregelt wurden. Da geht es nur um Verschärfung und Einschränkung. Es geht auch um einen so genannten „Talent-Pool“, wo wir versuchen, hochqualifizierte Leute zu finden und nach Europa zu bringen. Aber die große Frage, wie wir den Fach- und Arbeitskräftemangel mithilfe von Geflüchteten oder Menschen, die migrieren wollen, lösen, wird überhaupt nicht gestellt. Es gibt keinen legalen Migrationsweg. Es gibt nicht den Weg, dass man zu einer Botschaft der EU oder eines Mitgliedstaats in seiner Heimat geht und sagt: Ich würde gerne nach Deutschland, Frankreich, Italien oder irgendwo hinkommen. Ich würde gerne dort arbeiten, ich kann dies und das oder möchte es gerne lernen. Und dann bekommt man ’ne Greencard oder Bluecard oder wie auch immer. Das gibt es einfach nicht. Das heißt, die einzige Möglichkeit besteht weiterhin darin, sich auf den Weg zu machen, durch die Sahara oder übers Mittelmeer, und dann einen Asylantrag zu stellen, obwohl du keinen Grund für Asyl hast, in der Hoffnung, geduldet zu werden und arbeiten zu dürfen. Es ist total absurd. Die Ausfinanzierung in den Kommunen kam auch wieder nicht, das heißt, das Ressourcenproblem der Kommunen bei der Erstaufnahme wurde auch nicht gelöst. Die eigentlichen Probleme werden nicht gelöst, es werden nur den Populisten Scheinlösungen offeriert: Oh, wir machen die Zäune höher! Oh, wir stecken die Leute schneller in Haft, wir schieben sie schneller ab oder können sie schneller abschieben. Aber wohin sollen sie denn abgeschoben werden, wenn sie niemand aufnimmt? Wir lösen nicht die Probleme, sondern machen nur Populismus.
Warum klappt das jetzt bei euch so gut? Ich kenne solche Beispiele zuhauf! Wenn du eine engagierte Zivilgesellschaft hast, aber auch eine Kommune, die die Ressourcen hat und die Menschen nicht nur als Problem, sondern auch als Menschen begreift und sie integriert und aufnimmt, dann kann das richtig funktionieren! Es ist möglich. Die Menschen, die zu uns fliehen, sind nicht dauerhaft ein Problem. Sie sind am Anfang natürlich eine gewisse Extrabelastung, weil man natürlich erst mal Ressourcen freimachen muss. Aber langfristig sind sie einfach wahnsinnig wertvoll für unsere Gesellschaft und das Fortbestehen unserer sozialen Marktwirtschaft.
Kevin Roth: Du bist 2019 ins Europäische Parlament eingezogen, also kurz bevor die Corona-Pandemie Europa erreicht hat, bist also wahrscheinlich direkt in den Krisenmodus gegangen; die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen beschäftigen uns noch heute und werden das bestimmt noch eine Weile tun. Dann kam der Russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der nicht nur den Frieden in Europa erschüttert hat. Dazu das Erstarken von Autokraten und Populist*innen, auch in Europa. Geert Wilders in den Niederlanden, Giorgia Melonis profaschistische „Fratelli d’Italia“ in Italien, Victor Orban in Ungarn, die AfD in Deutschland. Der Krieg im Nahen Osten, in dem Europa neben den USA auch eine Schlüsselrolle innehat. Weltweit werden Hitzerekorde gebrochen und wir tun immer noch zu wenig gegen den menschgemachten Klimawandel. Dann machst du dir auch noch Sorgen um den Weltraum. Wie schaffst du es bei all den Problemen noch positiv in die Zukunft zu blicken?
Niklas Nienaß: (lacht) Ja, ich hab mir das auch nicht so ausgesucht und vorgestellt, das sage ich dir ganz ehrlich. Ich dachte, wir kümmern uns um diese verdammte Klimakrise, machen mal richtig Radau und werden damit zu kämpfen haben. Und das wäre ja auch ein ausreichend großer Kampf gewesen. Alles, was danach kam, war weder vorhersehbar noch begeisterungswürdig. Aber es gibt dieses schöne Zitat aus den „Herr der Ringe“-Filmen, wo Frodo zu Gandalf sagt: „Ich wünschte, ich hätte den Ring nie bekommen. Ich wünschte, all das wäre nie passiert.“ Und Gandalf antwortet: „Das tun alle, die solche Zeiten erleben. Aber es liegt nicht in ihrer Macht, das zu entscheiden. Du musst nur entscheiden, was du mit der Zeit anfangen willst, die dir gegeben ist.“ Man muss einfach die Herausforderungen annehmen, die da sind, und zum Wohle derjenigen, die nach uns kommen, das Beste daraus machen. Natürlich wäre es vor zehn Jahren einfacher gewesen, als nicht eine weltpolitische Krise nach der anderen kam. Aber ich bin nun mal jetzt hier und ich hab sehr viel Verantwortung von den Bürgerinnen und Bürgern bekommen, und der muss ich auch gerecht werden und das, wofür ich gewählt wurde, vernünftig umsetzen und vertreten.
Kevin Roth: In Baden-Württemberg haben wir die Europawahlen ja zusammen mit den Kommunalwahlen. Bei der Gemeinderatswahl haben die Bürgerinnen und Bürger genau so viele Stimmen wie der Gemeinderat Mitglieder hat, in Bammental sind das 18. Das Europaparlament hat ja ein paar mehr Sitze. Wie sieht denn der Stimmzettel für die Europawahl aus?
Niklas Nienaß: Der Stimmzettel für Europa wird fast einen Meter lang sein und du hast genau ein Kreuz, das du vergeben kannst. Und ich rufe alle dazu auf, dieses Kreuz bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu machen. Und dann bei euch alle 18 Kreuze bei den GRÜNEN.
Kevin Roth: Warum sollten die Bürgerinnen und Bürger ihr Kreuz bei den GRÜNEN machen?
Niklas Nienaß: Weil wir für ein Europa kämpfen, das sowohl ökologisch als auch ökonomisch und sozial nachhaltig ist, das in die Zukunft geht und das sich vor allen Dingen für Demokratie, Frieden und Sicherheit einsetzt.
Kevin Roth: Vielen Dank, dass du uns Europa und seine Wichtigkeit nähergebracht hast! Ich wünsche Dir viel Erfolg bei der Wahl am 9. Juni und hoffe, dass Du Dich weiterhin für Europa einsetzen wirst!
Niklas Nienaß: Danke Dir, dass du das Thema Europawahlen nach vorne trägst, und natürlich auch euch viel Erfolg bei der Kommunalwahl!
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Europa | Naturschutz | Wissen
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